Der Wiederaufbau der Stadt Altenkirchen nach dem 2. Weltkriege
Quellentexte aus der Rhein-Zeitung 1949/50
mit freundlicher Genehmigung der Rhein-Zeitung Altenkirchen 2010, übertragen von Eberhard Blohm
29. November 1949:
Altenkirchen 1945 – und heute
ALTENKIRCHEN. Der Fremde, der die Kreisstadt kurz nach dem schweren Bombenangriff, der sie zu
72% zerstörte, besuchte und sie heute wiedersieht, kann nicht umhin, seine Anerkennung über
schnellen, planvollen und gründlichen Wiederaufbau zum Ausdruck zu bringen. Der Wohnraum ist
bereits zu 30 Prozent und die Geschäftsgebäude zu 50 Prozent aufgebaut. Vom Bahnhof kommend,
fällt dem Besucher gleich auf der linken Seite der mächtige Neubau der Firma Schumacher besonders
ins Auge, an den sich die wiederaufgebauten Häuser Müller und Sattlergeschäft Ochsenbrücher
anreihen. Auch in den Wilhelmstraße hat sich das Bild seit 1945 wesentlich verändert und, von
einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, ist die Geschäftsstraße schön, fast wie ehedem erstanden,
wenn auch noch einige grasüberwucherte Trümmerhaufen an jene unheilvollen Märztage des letzten
Kriegsjahres erinnern.
Ü b e r a l l w i r d h e u t e g e b a u t,
und an der Quengelbrücke ersteht ein neues Geschäftshaus, während das Haus Haberkam in der
Wilhelmstraße fast bezugsfertig ist und oberhalb des Marktplatzes mit Hochdruck am Wiederaufbau
der Buchhandlung Käppele gearbeitet wird. Der Wiederaufbau der Drogerie C. A. Stock schreitet
ebenfalls rüstig vorwärts. Gaststätten, Hotels und Cafés sind schöner erstanden als zuvor. Die vor
dem Kriege weit über die Grenzen des Westerwaldes bekannte „Süße Ecke“ bietet ihren Besuchern
in den hellen und freundlichen unteren Räumen vorerst genügend Platz und dürfte ihren Namen
bereits wieder zurückerobert haben. In der Bahnhofstraße wurde vor zwei Monaten Café Schneider,
das traditionelle Familiencafé, wieder eröffnet. Neu hinzugekommen sind Café Weiler, Café Saynisch
und Café Spahr in der Wilhelmstraße, sowie Café Kehl in der Frankfurterstraße gegenüber dem
Finanzamt. Die wiedererbauten Häuser “Hotel Langenberg“ in der Wilhelmstraße, „Hotel zur Post“ in
der Kölner Straße, Gastwirtshaft Hirz und Gaststätte Petry vervollständigen die Reihe der
Neueröffnungen im Gaststättengewerbe, wobei nicht zuletzt die modern und gemütlich
eingerichtete Bahnhofsgaststätte, sowie das wohl auch in Kürze fertigwerdende frühere „Deutsche
Haus“ zu nennen wären. Nachdem die Kreissparkasse ihr altes und weniger zerstörtes Gebäude
bereits vor einigen Jahren wieder bezogen und in der Unterstadt ihre Stadtzweigstelle
wiedereröffnet hat, konnte auch die Westerwald-Bank gegen Ende des Sommers in ihrem am alten
Platze neu aufgebauten Gebäude einziehen; nicht zu vergessen die Raiffeisenkasse, die ebenfalls ihre
Geschäftsgebäude in der Koblenzerstraße sowie ein geräumiges Lagerhaus am Bahnhof wieder
hergerichtet hat. Geschäftseröffnungen registrierte Altenkirchen in den vergangenen anderthalb
Jahren fortwährend, angefangen beim Kaufhaus Becker, Jos. Koch Nachf., H. C. Au bis zum Textilhaus
Gerreser vor zwei Monaten u.a.m., während die Firma Karl Land ihr Geschäft noch in gemieteten
Räumen notdürftig weiterführt, da in ihrem vollständig unversehrt gebliebenen Haus ein Geschäft
für die Besatzungsbehörde untergebracht ist. Weiter zu nennen sind Schuhhaus Groß, Schuhhaus
Erdnüß, Schuhhaus Cramer und Schuhhaus Kolb, sowie Sporthaus Ortheyl, die Firmen Dresen, Karl
Winter Nachf., Willach, Schröder, Schneider, während sich das Feinkosthaus Deubel in einem
einfachen Holzbau am Blücherplatz etabliert hat. Beim Wiederaufbau des zerstörten Hausteils der
Apotheke ist erfreulicherweise die weit hervortretende und stark verkehrshindernde Hausecke, die
schon manchen Verkehrsunfall und erst kurz vor dem Kriege noch ein Todesopfer verursachte,
weggefallen. Die Metzgereien Gillet, Buch-Wahlster, Graf und Erdnüß konnten ebenfalls neu
eröffnen. Die zerstörten Schulgebäude, sowie die beiden Kirchen wurden noch nicht wieder
aufgebaut, da besonders im letzten Falle die notwendigen finanziellen Mittel fehlen. Durch
Aufschüttung der nicht verwertbaren Trümmerreste entstand auf dem Gelände am
„Weyerdamm“ein geräumiger Platz für größere Freilichtveranstaltungen wie Viehmärkte, Zirkus usw.
Aus Trümmern erblüht so zusehends neues Leben und insbesondere das Geschäftsleben
Altenkirchens floriert wie ehedem, wenn auch hier wie überall Kapital- und Kreditmangel sich
bemerkbar machen.
P r i v a t e I n i t i a t i v e
Daß aber hier der Wiederaufbau so schnell und energisch vorwärts gegangen ist, ist allein der
privaten Initiative der Altenkirchener Bevölkerung und der Geschäftswelt zu verdanken, die ohne auf
amtliche Hilfe zu warten, das Geschick ihrer Stadt selbst in die Hand nahmen.
Die Straßen allerdings und besonders die Wilhelmstraße als Hauptverkehrs- und Geschäftsstraße,
sowie die Bahnhofstraße befinden sich in einem Zustand, der in krassem Gegensatz zu dem privaten
Wiederaufbau steht. Wenn die Städt . Badeanstalt auch noch zerstört und im vergangenen Sommer
trocken lag, rechtfertigt der augenblickliche Zustand der Bahnhofstraße die Umbenennung des Café
Schneider in „Strandcafé“. Es ist daher nicht mehr als in der Ordnung, wenn die Altenkirchener
Bevölkerung von den verantwortlichen Stellen eine baldige Abstellung der gezeigten Übelstände
verlangt. Oder will man Altenkirchen zu einem zweit- oder drittrangigen Nest degradiert sehen- und
das nur wegen der Straßenverhältnisse?
21. Dezember 1949:
Die Kreisstadt und ihre Industrie
Zahlreiche krisenfeste Unternehmen garantieren den wirtschaftlichen Wohlstand
Altenkirchen ist nicht nur der Sitz der Kreisverwaltung und anderer Dienst- und Behördenstellen wie
Katasteramt, Finanzamt, Gesundheitsamt, Ortskrankenkasse und Amtsgericht, sondern verfügt Dank
seiner zentralen Verkehrslage mit Zugverbindungen zum Rhein, zur Sieg und zum oberen und
Unterwesterwald über eine ziemlich gutgehende Industrie. Sie ist trotz der schweren Kriegsschäden
und Zerstörungen heute bereits wieder voll arbeitsfähig und wurde teilweise nach dem Kriege neu
angesiedelt und aufgebaut. In richtiger Erkenntnis der Tatsache, daß eine gesunde und lebensfähige
Industrie die Entwicklung und Bedeutung der Stadt mitbestimmt und sie von einer verhältnismäßig
krisenfesten Industrie nur profitieren kann, hat die Amts- und Stadtverwaltung veranlaßt, immer
wieder neue Industriebetriebe anzusiedeln. Allerdings ist die Stadt von jeher mehr auf Handel als auf
Industrie eingestellt gewesen, und es ist nicht beabsichtigt, nun um jeden Preis Industriebetriebe
heranzuholen. Vor allen Dingen soll eine organische, in die Landschaft sich einpassende Industrie,
welche die heimischen Rohstoffe wie Holz und landwirtschaftliche Produkte verarbeitet, gefördert
werden. Angebote von Firmen, deren Förderung nicht zu rechtfertigen ist, müssen unberücksichtigt
bleiben. In den benachbarten Orten, von denen Ingelbach und Erbach wegen der günstigen
Bahnverbindung besonders geeignet sind, will man ebenfalls Betriebe ansiedeln.
G e l ä n d e v o r h a n d e n
Geeignetes Gelände ist in beiden Orten genügend vorhanden, befindet sich jedoch in Privatbesitz. In
Erbach hat man bereits eine Leichtplattenfabrik gegründet, und in Ingelbach arbeiten auf dem
Gelände der früheren Siegener Nietenfabrik die Lemmerzwerke. Außerdem besitzt dieses Werk noch
einige Baracken, die nach Möglichkeit an geeignete kleinere Betriebe vermietet werden sollen. Der
älteste Industriebetrieb in Altenkirchen ist wohl die Papierfabrik Jagenberg. Ein nächtliches Feuer
vernichtete im vergangenen Jahr einen Teil des Werkes. Heute floriert der Betrieb wieder. Die
Handels- und Kundenmühlen dürfen in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden. Die
„Altenkirchener Walzenmühle -, Inh. Walter Hassel“, verfügt über eigenen Bahnanschluß und wurde
insbesondere in den letzten Jahren erheblich ausgebaut und damit die Produktionskapazität
wesentlich erhöht, wozu auch die angeschlossenen und nach dem Kriege gegründeten „Rheinischen
Nachkriegsjahren durch umfangreiche Erweiterungsbauten das Fundament ihres Betriebes festigen
können. Die Walzenmühlen Heinrich Bachmannbetreibt gleichzeitig einen ausgedehnten Handel in
Kohlen, Düngemittel usw. Drei Sägewerke besitzt Altenkirchen. Die Firma Karl Krug an der
Mammelzer Straße verfügt neben dem Sägewerk über eine gutgehende Schreinerei und beschäftigt
40 Arbeiter. Die Firmen „Gustav Hassel Dampfsägewerk“ an der Frankfurter Straße und das
„Altenkirchener Säge- und Hobelwerk Adam Hassel“, das etwa 20 Arbeiter beschäftigt, verfügen über
eigenen Gleisanschluß.
B e i t r a g z u m W i e d e r a u f b a u
Einen weiteren Betrieb der holzverarbeitenden Industrie bilden die „Möbelwerkstätten Peter
Hartgenbusch“, die zurzeit etwa 25 Mann beschäftigen und vorwiegend Küchenmöbel herstellen. Um
die Jahrhundertwende gegründet, hat die Firma J. Becker Inh. Ferdinand Becker einen wesentlichen
Beitrag zum Wiederaufbau der zerstörten Kreisstadt geleistet. In der Dampfziegelei, wo etwa 40
Arbeiter beschäftigt sind, werden monatlich 250 bis 300 000 Ziegelsteine produziert. Außerdem
betriebt die Firma Becker Groß-und Einzelhandel in Kohlen, Düngemittel und Baumaterialien. Der
oberhalb Altenkirchens in der Kölner Straße liegende Betrieb der Firma Blöcher KG, Zweigbetrieb
der Duisburger Firma gleichen Namens, deren Maschinen während des Krieges nach hier verlagert
wurden, ist erst nach dem Krieg endgültig angesiedelt und aufgebaut worden. Vor ungefähr zwei
Jahren wurden neue und massive Werkhallen erstellt und die Fabrikation erheblich erweitert. Neben
der Zylinder- und Kurbelwellenschleiferei sowie der Motorenüberholung stellt man hier zurzeit
hauptsächlich Betonmischmaschinen her, wobei die Monatsproduktion 30 Stück beträgt. 30 Mann
werden hier beschäftigt und für lange Zeit ist die Firma ausverkauft. Außer dem Betrieb der Firma
Löhndorf liegt in der Nachbarschaft das Kunststoffpreßwerk Wilhelm Schneider, welches in lichten
und hellen Werkräumen mit modernen Maschinen Lichtschalter und andere aus Kunststoff gefertigte
Elektrobedarfsartikel herstellt. Die Arbeit der 10 Köpfe zählenden Belegschaft ist durch gute und
genügende Aufträge ebenfalls gesichert. Zum Schluß wäre die in Kürze eröffnende Lebensmittelfabrik
„Neuko“ zu nennen. Hier ist man augenblicklich mit dem Aufstellen der Maschinen beschäftigt, doch
sind die erforderlichen Arbeitskräfte bereits eingestellt, sodaß die Produktion von Nährmitteln und
Teigwaren in den nächsten Tagen anlaufen kann. W. H.
12. Januar 1950:
Das Geschäftsleben in der Stadt Altenkirchen
Zahlen belegen die Bedeutung der Kreisstadt für Handwerk, Handel, Gewerbe
ALTENKIRCHEN. Seiner Struktur und geographischen Lage entsprechend ist die Kreisstadt heute, wie
von jeher, in erster Linie auf Handel eingestellt. Diese Tradition wurde durch Jahrhunderte hindurch
planmäßig gefördert. Als Anfang der achtziger Jahre die ersten Eisenbahnstrecken über den
Westerwald gebaut wurden, war die plötzliche Aufwärtsentwicklung der Kreisstadt nicht mehr
aufzuhalten, und bald war sie einer der wichtigsten Eisenbahnknotenpunkte des Westerwaldes mit
Verbindungen zum Rhein und zur Sieg. Die Bedeutung Altenkirchens als Verwaltungsmittelpunkt und
Sitz der Kreisverwaltung, die es in zwei Jahren bereits 14 Jahrzehnte in seinen Mauern beherbergt,
waren dieser Entwicklung nur dienlich und sind nicht ohne Einfluß auf sie geblieben. Den ersten der
beiden großen Kriege hat die Stadt verhältnismäßig gutüberstanden und schnell den Anschluß an ihre
frühere Entfaltung wiedergefunden, die allerdings in jenen schweren Jahren – als man auch in
Altenkirchen „eigenes Geld“ zu drucken gezwungen war – nochmals kurz unterbrochen wurde. Den
schwersten Schicksalsschlag seiner Geschichte jedoch erlitt die Stadt in jenen Märztagen gegen Ende
des zweiten Weltkrieges, als sie durch Bombenangriffe zu mehr als 70% zerstört wurde und dadurch
in ihrer Entwicklung als Handelsstadt weit zurückgeworfen wurde. Heute allerdings ist dank der
privaten Initiative der Bevölkerung und der Geschäftswelt und unter tatkräftiger Hilfe der heimischen
Geldinstitute die Stadt zu einem großen Teil bereits wieder aufgebaut. Als „Verkehrs- und
Eisenbahnknotenpunkt“ hat Altenkirchen seine frühere Bedeutung zurückerlangt, rollen doch z. Zt.
bereits täglich wieder mehr als ein halbes Hundert Züge durch den Bahnhof. Überdies haben
zahlreiche Omnibuslinien in der Kreisstadt ihren Ausgangspunkt und erschließen den Unterkreis und
das „kaufkräftige Hinterland“ und tragen wesentlich zur Belebung von Handel und Wandel bei.
Simon-Juda-Markt und Thomas-Markt, von denen ersterer bis ins frühe Mittelalter zurückreicht,
erfreuen sich heute wie vor hunderten von Jahren stets gleichbleibender Beliebtheit und bilden
Höhepunkte des geschäftlichen Lebens.
Die Bedeutung der Stadt für Handel, Handwerk und Gewerbe belegen mehr als alle anderen die
nachfolgenden nüchternen Zahlen und Angaben. Neben zehn größeren Industriebetrieben verfügt
die Stadt z. Zt. über 16 Großhandelsbetriebe. Bei den 138 Einzelhandelsgeschäften führen die
Textilbranche mit 18 Geschäften, die Gast- und Schankwirte mit 16 Betrieben und die
Lebensmittelgeschäfte mit 10 Geschäften. Es folgen 6 Kohlengeschäfte; 8 Architekten; 6 Cafés; 6
Schuhwarengeschäfte; 5 Versicherungsunternehmen; 5 Schreibwarenhandlungen; 4 Gold- und
Uhrwarengeschäfte; 5 Fahrräder- , Maschinen- und Elektrogeschäfte; 3 Samengeschäfte; 3
Handelsvertretungen; 3 Geldinstitute; 3 Gemischtwarengeschäfte; 3 Gemüsegeschäfte; 3
Milchverteiler; 2 Fotogeschäfte; 2 Drogerien; 2 Optiker; 2 Glaswarengeschäfte; 2
Mietwagenbetriebe; 2 Hotels; 1 Buchhandel, 1 Apotheke; 1 Stahlwarengeschäft; ein
Lichtspieltheater, usw; eine Silberfuchsfarm beendet den Reigen der Einzelhandelsunternehmen.
Beim Handwerk, das 113 Betriebe aufweist, sind es die Bäckereibetriebe und Anstreichergeschäfte,
die 13 und 12 die Spitze halten. Die Schreiner, Schuhmacher und Herrenschneider zählen mit je 9
ebenfalls zur Spitzengruppe, gefolgt von den Herren- und Damenfriseurbetrieben mit je 8, den
Metzgereien mit 7, den Uhrmachern und Bauunternehmen mit je 6 und den
Autoreparaturwerkstätten, den Schmiede- und Schlossereibetrieben mit 4. 3 Elektrobetriebe, 3
Klempnereien, 3 Putzmachergeschäfte und 3 Gärtnereien ergänzen und runden das Bild des
heimischen Handwerks. Den Schluß machen mit je 2 Betrieben die Stellmacher, Sattler und Polsterer,
Bedachungsgeschäfte, Damenschneiderbetriebe, während mit je einem Betrieb die Färber und
Zimmerer vertreten sind, wozu noch eine Autolackierei, eine Vulkanisieranstalt und eine
Metallschleiferei kommen.
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